Interview mit Daniel Odier

Eine Partnerschaft ist die ideale Situation, um deine Dämonen anzuschauen! 

Daniel Odier ist ein Meister der tantrischen Shivaismus. Er unterrichtet die Spanda Lehre des kaschmirischen Shivaismus und den mystischen Tanz Tandava, die er beide von seiner Meisterin, der Yogini Lalita Devi übertragen bekam. Ein Interview mit Daniel Odier über Liebe, Beziehungen und Sex.

Was bedeutet Liebe?

Liebe ist eine tiefe Verbindung mit der Gesamtheit und dem Kosmos. Es gibt eine permanente Verbindung zwischen individueller Liebe und der Liebe des Absoluten. Die Liebe zu einzelnen Menschen kann sich nur durch die Liebe zum Größeren vertiefen. Sogar in der neurotischen Liebe ist etwas Heiliges enthalten, aber die meisten Menschen sehen das nicht.

Was ist Begierde?

Es ist eine essentielle Energie des Menschen, die sehr wertvoll und schön ist. Etwas zu wollen ist kostbar, denn es macht uns lebendig. Die Begierde kann auf alles gerichtet sein, Musik, Essen, eine Person. Die Idee, die Begierde zu töten, ist für mich absolut drastisch. Wenn jemand das Verlangen hat, keine Begierden mehr zu haben, so ist das auch eine Begierde, vielleicht sogar die schlimmste. Das Verlangen ist sehr wichtig für das gesamte Wesen, damit das Göttliche, das Heilige, wie auch immer wir es nennen, erreicht werden kann. Wenn wir etwas begehren und es nicht bekommen, so sind wir meistens enttäuscht. Doch es gibt noch einen anderen Weg der Begierde: Wir begeben uns ganz und gar in die Intensität des Verlangens hinein, und das allein ist die Erfüllung. Dann ist es kein Drama, wenn das Objekt der Begierde verschwindet, denn wir haben es auf eine Weise bereits gehabt. Ich denke, das ist die yogische Weise, etwas zu begehren.

Was bedeutet Sexualität im Tantra?

In den 60er Jahren hatte jemand die Idee, sexuelle Befreiung und Spiritualität zu vermischen. Das war eine gute Idee, aber es ist eine große Illusion und hat nichts mit dem tantrischen Weg zu tun. Sexualität ist natürlich ein Teil der tantrischen Tradition, aber in einer Form, die absolut grandios ist und bei der es nicht um eine Interaktion geht, die zur Erleuchtung führt. Es ist ganz klar, dass wir zuerst viele Jahre Yoga praktizieren, dann erfahren wir das Einssein mit dem Absoluten und eventuell kann es nach 10 oder 20 Jahren auch zu einer sexuellen Praxis werden. Meine kashmirische Lehrerin Lalita sagte, wenn einer von beiden nicht mit dem Absoluten verbunden ist, ist es ein absolutes Desaster.

Viele Menschen auf dem spirituellen Weg haben sich bewusst dafür entschieden, Single zu sein und sind damit glücklich. Welche Bedeutung hat eine Partnerschaft für den spirituellen Weg?

Eine Partnerschaft ist die ideale Situation, um deine Dämonen und Ängste anzuschauen. Ich glaube, in einer Beziehung zu sein, ist die schwierigste Sache auf der Welt. Das ist der Grund, warum sich auch viele spirituelle Lehrer dafür entscheiden, alleine zu leben. Sie wissen, wenn sie mit jemanden leben würden, wären sie vielleicht ein bisschen chaotisch und vermeiden lieber, einen bestimmten Teil von sich selbst zu sehen. Wenn du alleine in einem Haus lebst, bist du in Frieden und verliebst dich in die Schmetterlinge oder die Bäume. Ein Baum sagt dir nicht, dass du ein Idiot bist. Als ich vor langer Zeit mit Ramesh Balsekar in Bombay war, trafen wir einen jungen Mann um die 40, der mit einer Frage zu Ramesh kam: „Ich bin bereits in totalem Frieden, was soll ich tun?“. Ramesh fragte ihn, wo er lebe, und der Mann sagte, allein in einem kleinen Haus im Himalaya. „Nimm dir eine Frau und komme in einem Jahr wieder!“, riet ihm Ramesh.

Du selbst lebst seit 25 Jahren in einer festen Partnerschaft. Worin liegt die Kunst, eine lange Beziehung zu führen und lebendig zu halten?

Den anderen nicht zu kennen. Du musst deinen Partner jeden Morgen neu entdecken, immer wieder frisch und neu. Die Liebe braucht sehr viel Kreativität und wenn du sehr kreativ bist, kann es am besten funktionieren. Du bist wie in Maler und malst, um zu sehen, was entstehen will. Es ist auch wichtig, dem anderen alles zu sagen, was man fühlt. Das ist nicht einfach und es braucht Zeit. Dahin kommt man nicht nach zwei oder drei Jahren, denn erstmal werden Gefühle wie Eifersucht auftauchen. Jede Art von neurotischer Liebe entsteht aus der Angst, verlassen zu werden und die Angst führt dazu, dass du beginnst, den anderen zu manipulieren, damit er dich nicht verlässt. Wenn man als Paar zu dem Punkt kommt, wo keiner mehr Angst vor dem Verlassen werden hat, wird die Liebe sehr stark. Aber das dauert sieben, acht oder 10 Jahre. Die meisten Menschen bleiben nicht so lange in einer Beziehung, weil sie zu große Angst haben. Sie gehen in die nächste Beziehung und das ist sicherlich besser für die ersten drei Monate, aber dann beginnt die gleiche Geschichte von vorne. Ich glaube, es ist viel interessanter, mit einer Person tiefer zu gehen. Doch dafür muss man die gleiche Vorstellung von der Liebe haben und daran glauben, dass Liebe Freiheit ist und dass wir durch sie wachsen.

Wie kann man als Single einen Menschen anziehen, der bereit ist, Liebe und Partnerschaft als spirituelle Praxis zu leben und tiefer zu gehen?

Für mich war es sehr faszinierend, mit Lalita Devi zu leben, denn sie lebte allein, doch sie drückte Sinnlichkeit aus war in absoluter Liebe mit dem Raum. Wenn du Single bist und auf die Liebe wie auf einen Bus wartest, wird sie niemals kommen. Wenn du damit beginnst, dich in das Absolute zu verlieben, dann will dich jeder, denn Menschen spüren, dass du verliebt bist und sie wollen dort sein, wo du bist, also wollen sie dich. Lalita sagte, die erste Liebe, die du haben solltest, ist immer der Raum, denn er kann dich niemals verlassen. Das ist sehr wahr. Wenn du mit dem Raum verbunden bist, dann fühlst du, dass dein Leben immer voll ist, dann geht eine Person aus deinem Leben, aber es ist kein großes Drama. Wenn du auf eine Person fokussiert bist und sie geht, dann bist du verloren. Yoga ist eine konstante Liebe zum Raum im Raum.

Im Vjnana Bhairava heisst es. „Wenn du das sexuelle Ritual praktizierst, möge das Denken im Erschauern der Sinne verweilen wie der Wind in den Blätter…“ (68). Wie bringt man das Denken dazu, im Erschauern der Sinne zu verweilen?

In der Tradition die ich unterrichte, ist alles, was wir in Vibration (Spanda) tun, ein Teil des Yoga. Das kann Musik sein oder andere Dinge, die den Körper in Vibration bringen. Jede Vibration ist physisch. Normalerweise ist der Geist der Diktator, er arbeitet unentwegt und wenn er sich einmal in der Stille ausruhen kann, geniesst er es und kommt wie alle anderen Organe des Körpers in Vibration. Hat der Geist einmal die Stille erfahren, wünscht er sich mehr davon.

Gibt es eine Technik, die man als Paar praktizieren kann, um diesem Zustand näher zu kommen?

Es gibt einen Punkt, wo du sogar organisch vergisst, ob du Mann oder Frau bist, ob du eine Yoni oder einen Lingam hast. Es ist ein Spiel zusammen im Raum und das ist wirklich schön und schwierig zu erreichen. Manchmal geschieht es einfach so, wie ein Wunder, doch das ist nicht sehr oft und wir sehnen uns danach. Wir müssen die Angst loslassen, im gegenwärtigen Moment präsent sein und mehr zusammen spielen! Es gibt einen wunderschönen Dialog zwischen Shiva und Shakti: „Warum willst du Liebe mit mir machen?“ fragt Shiva. „Weil du der einzige bist, der auch mein Herz penetrieren kann.“, antwortet Shiva.

Herzlichen Dank für das Interview!

Julia Johannsen

About the author: Julia Johannsen

Julia unterrichtet Yoga seit 2002 und ist inspiriert vom 5Rhythms dance und Prana Flow Yoga. Sie schreibt als Autorin für verschiedene Verlage und Magazine und arbeitet in einem kleinen Team in Berlin als Body- und Life-Coach.

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