Frei Luft Malerei

Im Zeitalter der digitalen Bilderflut auf Smartphones und Tablets, der Selbstpublizierung von milliarden von Bildern auf Social Media und derer sofortigen Verfügbarkeit, mag es dem einen oder anderen User vielleicht anachronistisch erscheinen, wenn sich jemand mit Frei-Luft-Malerei beschäftigt. Aber genau dieses Phänomen des inflationären Massenkonsums von Bildern auf allgegenwärtigen Bildschirmen in einer rasenden Welt bewegt mich dazu, regelmäßig den Stecker zu ziehen, in die Natur zu gehen, um dort auf Papier ganz archaisch Linien zu ziehen, in Farbe zu rühren und einen kreativen und magischen Moment zu suchen.

Kunstgeschichtlich betrachtet ist die Freiluftmalerei sogar noch relativ jung – nahm ihren Beginn mit dem ausgehenden 19.Jahrhundert, als sich technisch die Möglichkeit eröffnete, Ölfarben in Tuben abzufüllen und damit transportierbar zu machen. Mit dem Impressionsmus in Frankreich erlebte die Freiluftmalerei sicherlich ihre Blüte.

Mein Antrieb draußen zu zeichnen und malen ist ein rein persönlicher und eher von spiritueller Natur. Mir geht es nicht um ein künstlerisches Statement, sondern darum, mich digital zu entlüften und über das kreative Tun in die Verbundenheit zu kommen. Das Smartphone wird auf „Flugmodus“ gestellt, nichts mehr beantwortet oder „geliked“. Die gesamte Aufmerksamkeit ist auf das Jetzt, das pure Sein. Den Weg in die Natur ist ein schrittweises Loslassen von kreisenden Gedanken, und mein Fokus richtet sich auf die Atmung, auf das bewusste Bewegen, achtsame Auftreten und gleichzeitig auf die Wahrnehmung der Bäume, Pflanzen und Naturwesen. Schon nach kurzem beginnen sich die Sinne zu verfeinern, und mit „sehenden Augen“ begegnet man seinem künstlerischen Motiv, welches einen regelrecht „anspricht“.

Bevor ich beginne zu zeichnen, vor allem wenn der Weg zum Motiv recht kurz war, mache ich manchmal eine Meditation, meist die Wechselatmung Nadi Shodhana, mit relativ langen Luftanhaltephasen und Atemleere. Es ist unvermeidbar, dabei die Düfte wahrzunehmen, die in der Luft liegen, sowie den Klängen der Insekten, der Vögel, des Windes oder des Wassers zu lauschen. Manchmal erscheint es dann, als könne man den Pulsschlag und den Atemrhythmus der gesamten Natur wahrnehmen – mit dem  Wunsch in diesen Einklang zu kommen, in die Einheit, in das sogenannte Paradies.

Nach ungefähr 10 Minuten öffne ich die Augen und mit langsamen Pupillenbewegungen versuche ich den Ort vom Zentrum aus abzutasten. „Wo bin ich überhaupt? Welche Lebewesen umgeben mich? Welche Kräfte und Ereignisse haben den Ort so geformt, wie er ist? Welche Geschichte erzählt er? Was ist das Besondere?“ Aus diesem Zuhören und vertieften Sehen bekommt man meißt eine zeichnerische Idee von dem, was man ausdrücken möchte.

Beim kreativen Prozess des Zeichnens oder Malens versuche ich „nicht mehr zu denken“ – lediglich zu beobachten. Dafür war die Meditation wichtig, um ein friedliches inneres Klima zu schaffen, ohne ständige Kommentare oder Bewertungen. Ich gebe mich also möglichst vollständig dem Tun hin. Und natürlich verlasse ich immer wieder den eingeschlagenen Weg, vor allem mit Aquarell ist das Loslassen von Vorstellungen der eigentlich spannende Prozess. Oder anders ausgedrückt, durch das Zulassen des Unerwarteten und auch von „Fehlern“ kommt die Magie ins Bild, das Besondere. Denn in diesem Moment geben wir der kreativen Kraft Raum in uns zu wirken, und wir werden zum Beobachter unseres eigenen Tuns. Es fühlt sich an, als wechselt unser Bewusstsein die Seite und die Schöpferkraft selbst übernimmt kurzzeitig das Ruder, um sich durch uns auszudrücken. Wir spüren dann durch unsere Hände dass, was wir eigentlich immer sind: Ein Ausdruck der göttlichen schöpferischen Kraft.

In diesem Stadium sind wir purer Kanal. Diese Momente haben etwas von Erleuchtung, von Bodhi, dem höchsten Zustand des Seins. Für mich ist es der magische kreative Moment. Der Grund, warum ich „Freiluftmaler“ bin. In absoluter Verbundenheit, geführt und spürbarer Teil der Einheit.

Meist folgt dem Gewähren eines solch „heiligen Kontrollverlusts“ ein plötzliches Ende. Der Verstand meldet sich erschrocken zurück und schickt alsbald den inneren Bewerter auf den Plan. Wenn diese innere Stimme dann kritiklos schweigt, erstaunt ist oder gar den Versuch unternimmt, sich in Lobeshymnen zu verlieren – bleibt mein Ego ohne Stolz, voll Gleichmut und purer Dankbarkeit. Diese Stille und Verbundenheit nehme ich mit auf den Rückweg, zusammen mit einem oder mehreren neuen Bildern im Gepäck, die aber nicht das Wesentliche sind.

https://www.michaelworm.com/landschaft

About the author: Michael Worm

Michael ist Künstler und auch der Designer von Bodhishape. Er praktiziert Meditation und reflektiert in diesem Blog über verschiedene Lebensthemen und innere Prozesse – ausgedrückt in Wort und Bild

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