ACHTSAMES ATMEN

Achtsames Atmen nach Thich Nhat Hanh

Der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh zählt zu den bekanntesten spirituellen Lehrern der Gegenwart. Als führender Vertreter eines engagierten Buddhismus und Autor zahlreicher Bücher genießt er weltweit großes Ansehen. Seit vielen Jahren lebt er in der von ihm gegründeten Gemeinschaft Plum Village in Frankreich. Thich Nhat Hanh ist ein Meister des Anapanasati Sutta: Sutra des bewussten Atmens, und des Sattipatthana Sutta: Sutra über die Vier Grundlagen der Achtsamkeit.

Die Übungen des bewussten Atmens sind eine beobachtende Meditation, in der es nicht darum geht, etwas zu verändern oder zu kontrollieren, sondern Atem, Körper, Gefühle, Geist und Geistesobjekte mit liebevoller Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Achtsamkeit bedeutet nach Thich Nhat Hanh das unerschütterliche, standhafte und unbeirrbare Verweilen im gegenwärtigen Moment.

Bewusstes Atmen und die erste Grundlage der Achtsamkeit:

Der Körper

In unserem Alltag fahren wir Auto, waschen die Wäsche, kochen oder unterhalten uns mit jemanden und sind gewohnt, dass unsere Gedanken dabei umherwandern. Wir sind zwar lebendig, aber oft nicht in der Lage, mit unserem Geist im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Lebendigkeit bedeutet, Achtsamkeit für das zu entwickeln, was in diesem Moment in uns und um uns geschieht. Wir beginnen mit der einfachsten Übung, die uns in jedem Augenblick ins Hier und Jetzt zurück bringen kann: Den Atem bewusst wahrzunehmen.

Die ersten vier Übungen des bewussten Atems richten die Aufmerksamkeit auf die Atmung im Körper und den Körper. Beim Einatmen wissen wir, dass wir einatmen, beim Ausatmen wissen wir, dass wir ausatmen. Dabei nehmen wir die Qualität der Atmung wahr, ohne diese irgendwie zu beurteilen oder verändern zu wollen. Wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Atmung richten, erfahren wir, dass der Atem unseren Geist beeinflusst und ebenso der Geist den Atem. Der Atem ist ein Aspekt des Körpers und das Gewahrsein des Atems ist somit auch gleichzeitig das Gewahrsein des Körpers. Die ersten vier Übungen beruhigen und vertiefen die Atmung und lassen den Körper friedvoll und ruhig werden.

  1. Bei langem Einatmen weiß ich: Ich atme lang ein. Bei langem Ausatmen weiß ich: Ich atme lang aus.
  1. Bei kurzem Einatmen weiß ich: Ich atme kurz ein. Bei kurzem Ausatmen weiß ich: Ich atme kurz aus.
  1. Ich atme ein und nehme meinen ganzen Körper bewusst wahr. Ich atme aus und nehme meinen ganzen Körper bewusst wahr.
  1. Ich atme ein und lasse meinen Körper ruhig und friedvoll werden. Ich atme aus und lasse meinen Körper ruhig und friedvoll werden.

Bewusstes Atmen und die zweite Grundlage der Achtsamkeit: Die Gefühle

Die zweite Gruppe der Übungen des bewussten Atems lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gefühle. Jeden Tag empfinden wir tausende Gefühle und wir können sie wie ein Land betrachten, für das wir als Königinnen und Könige die Verantwortung tragen müssen. Im Buddhismus werden drei Arten von Gefühlen unterschieden: angenehme, unangenehme und neutrale. Bei der achtsamen Betrachtung der Gefühle spielt es keine Rolle, welcher Art ein Gefühl ist. Wir verbinden die bewusste Atmung mit allen  Gefühlen, die gerade da sind und umarmen sie mit unserer Achtsamkeit. Auf diese Weise können sich die Gefühle wandeln und wir kommen zurück in den gegenwärtigen Augenblick.

  1. Ich atme ein und empfinde ein Gefühl der Freude. Ich atme aus und empfinde ein Gefühl der Freude.
  1. Ich atme ein und empfinde ein Gefühl des Glücks. Ich atme ein und empfinde ein Gefühl des Glücks.
  1. Ich atme ein und und nehme die Aktivitäten des Geistes in mir bewusst wahr. Ich atme aus und nehme die Aktivitäten des Geistes in mir bewusst wahr.
  1. Ich atme ein und lasse die Aktivitäten meines Geistes ruhig und friedvoll werden. Ich atme aus und lasse die Aktivitäten meines Geistes ruhig und friedvoll werden.

Bewusstes Atmen und die dritte Grundlage der Achtsamkeit: Der Geist

Die dritte Gruppe des bewussten Atems richtet den Fokus auf den Geist und seine Aktivitäten. Dazu zählt alles was zum gegenwärtigen Zeitpunkt in unserem Geist erscheint: Liebe, Verstehen, Mitgefühl, Recht und Unrecht unterscheiden, anderen zuhören, Gewaltlosigkeit, aber auch unheilsame Keime wie Ärger, Mutlosigkeit, Misstrauen oder Stolz. “Die Samen des Vertrauens, des Mitgefühls, der Güte, des Gleichmutes und der Freiheit liegen tief in unserem Bewusstsein geborgen. Wir brauchen sie nur zu berühren und ihnen durch unser bewusstes Atmen Wasser zu geben, damit sie sich manifestieren und Gestalt annehmen.”, schreibt Thich Nhat Hanh. Alle Geistesformationen, die sich im gegenwärtigen Augenblick manifestieren, können wir zum Objekt unserer Konzentration machen. Schauen wir tief in das Wesen von Angst, Ärger, Furchtsamkeit oder ähnlichem, entwickelt sich Verstehen, und dieses Verstehen führ in die Freiheit.

  1. Ich atme ein und nehme meinen Geist bewusst wahr. Ich atme aus und nehme meinen Geist bewusst wahr.
  1. Ich atme ein und lasse meinen Geist glücklich und leicht werden. Ich atme aus und lasse meinen Geist glücklich und leicht werden.
  1. Ich atme ein und sammle meinen Geist. Ich atme aus und sammle meinen Geist.
  1. Ich atme ein und befreie meinen Geist. Ich atme aus und befreie meinen Geist.

Bewusstes Atmen und die vierte Grundlage der Achtsamkeit: Die Geistesobjekte

Die vierte Gruppe des bewussten Atmens richtet die Aufmerksamkeit auf die Objekte des Geistes. Der Geist kann nicht von seinen Objekten getrennt werden. Geist ist Bewusstsein, ist Empfindung, ist Zuneigung, ist Abneigung. Bewusstsein ist immer das Bewusstsein von etwas, Empfindung immer die Empfindung von etwas, Lieben und Hassen ist immer auf etwas bezogen. Dieses Etwas ist das Objekt des Geistes. Der Geist ist in jedem Moment zugleich Subjekt und Objekt. Zu den Objekten des Geistes zählen physische Phänomene wie der Atem, die Sinnesorgane, Gedanken und Bewusstsein, aber auch die Erde, das Wasser oder das Gras. Jedes Phänomen ist dem ständigen Wandel unterworfen, ist vergänglich und unbeständig. Durch das Erkennen des Wandels sehen wir, dass alle Erscheinungen wechselseitig miteinander verbunden sind, dass jede Existenz von der Existenz aller anderen Erscheinungen abhängig ist. Nichts hat ein unabhängiges getrenntes Selbst, jedes Phänomen befindet sich bereits im Prozess seiner Auflösung, auch der Atem. Die Beobachtung der unbeständigen Natur in allen Dingen, die existieren führt zum Loslassen von Begierden und Anhaftungen.

  1. Ich atme ein und beobachte die unbeständige Natur aller Phänomene. Ich atme aus und beobachte die unbeständige Natur aller Phänomene.
  1. Ich atme ein und beobachte das Erlöschen der Begierde. Ich atme aus beobachte das Erlöschen der Begierde.
  1. Ich atme ein und betrachte die vollkommene Befreiung. Ich atme aus und beobachte die vollkommene Befreiung.
  1. Ich atme ein und betrachte das Loslassen. Ich atme aus und betrachte das Loslassen.

Julia Johannsen

About the author: Julia Johannsen

Julia unterrichtet Yoga seit 2002 und ist inspiriert vom 5Rhythms dance und Prana Flow Yoga. Sie schreibt als Autorin für verschiedene Verlage und Magazine und arbeitet in einem kleinen Team in Berlin als Body- und Life-Coach.

You must be logged in to post a comment.